Bildung

Carte Blanche

Text: Werner Bänziger
Bildquellen: Archiv Kurt Honegger und andere

Werner Bänziger, Germanistik- und Geschichtsstudium an der Uni Zürich, Doktorat 1995, seit 1993 an der KSWE tätig, Pensionierung im Schuljahr 2022.


Meine Jahre in Wettingen …

An einer Schule unterrichten, deren Aufnahmeprüfung ich nicht bestanden habe? Manchmal hält das Leben merkwürdige Überraschungen bereit. 1972 fuhr ich mit dem Mofa von Dietikon nach Wettingen. Die Aufnahmeprüfung fürs Seminar stand an. In der Sekundarschule Dietikon hatte ich ansprechende Noten. Nein, ein glänzender Schüler war ich damals nicht, aber es hätte reichen müssen, eine 5 in Deutsch, eine 5 in Französisch und eine 5.5 im Rechnen, so hiess das Fach damals. Die Aufnahmeprüfung wurde für mich zum Schock: Erst Jahre später habe ich verstanden, wo das Problem lag – in der eidgenössischen Bildungslandschaft. Wie hätte ich auch vermuten können, dass die Lehrpläne zwischen dem Aargau und dem Kanton Zürich so stark abweichen? Im Fach Französisch waren die Anforderungen viel höher, ebenfalls im Fach Mathematik. Fünf von sechs Aufgaben in der Matheprüfung habe ich nicht verstanden. Erst Jahre später wurde mir klar, weshalb dem so war: Im Aargau wurde die Mengenlehre in der letzten Volksschulklasse eingeführt, im Kanton Zürich im ersten Jahr Gymnasium.

Als mich Urs Strässle, der damalige Rektor, 1993 zu sich ins Büro gerufen und mich nach einem kurzen Gespräch engagiert hatte, bin ich durch Gänge gehüpft. Ich war glücklich, nach meinen Lehrjahren als Primarschullehrer und Journalist angekommen zu sein. Ich sehe es vor mir, als wäre es eben erst geschehen, da hüpfte einer vor Freude durch die leeren Gänge – gleichsam (s)einer Zukunft entgegen.


«Heiliges Feuer»

Den Einstieg hat man uns Junglehrerinnen und Junglehrer einfach gemacht. Sowohl in der Fachschaft Deutsch als auch der Fachschaft Geschichte traf ich auf Kolleginnen und Kollegen, die uns behutsam in die Geheimnisse einer kantonalen Mittelschule einführten, uns mit Ratschlägen beistanden und um den Zauber der frühen Jahre wussten. Wer am Gymnasium zu unterrichten beginnt, wird das in den ersten Jahren nicht mit jener Perfektion und Selbstverständlichkeit tun, welche ältere Lehrpersonen auszeichnet, es genügt, wenn, wie das Kurt Gasser, einer meiner Mentoren, ausdrückte, ein «heiliges Feuer brennt».

Ja, das Feuer brannte, von Beginn weg. Mir war immer bewusst, dass ich nicht der richtige Lehrer für alle Schülerinnen und Schüler sein würde, aber ich hoffte, jenen, die mich ablehnten, nicht im Weg zu stehen. Worin besteht die Aufgabe von uns Lehrpersonen? Wir leiten Lernprozesse an, wir versuchen, einen mehr oder minder strukturierten Unterricht zu entwickeln, der die Schülerinnen und Schüler herausfordert und voranbringt. Ob sie das Angebot annehmen, steht auf einem anderen Blatt. So gesehen waren und sind wir immer multiple Persönlichkeiten: Lehrpersonen, die Fachwissen vermitteln, Coachs und ein Stück weit Vorbilder, im positiven oder negativen Sinn. Es ist etwas aus der Mode gekommen, von der pädagogischen Beziehung zu sprechen, sie ist aber meines Erachtens das A und O guten Unterrichts. Erst wenn wir mit den Schülerinnen und Schüler in eine konstruktive Arbeitsbeziehung treten, wird Lernen möglich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ohne diese Beziehung geht. Wenn ich mit meiner eigenen Mittelschulzeit vergleiche, so liegen Welten dazwischen. Damals, im Gymnasium Freudenberg in Zürich, waren die Lehrpersonen Unberührbare. Ihre Lebenswelt hatte mit der unsrigen nicht das Geringste zu tun. Nie hätte ich in einem Aufsatz etwas Persönliches geschrieben.

Die Pädagogisierung unseres Berufes ist heute Tatsache. Ich beneide die vorangehenden Lehrgenerationen ein Stück weit, die, wenn sie wollten, neben ihrer Lehrtätigkeit in der universitären Welt aktiv bleiben konnten. Die Nähe zu unseren Schülerinnen und Schülern erfordert ihren Tribut: Wer sich einsetzt, hat zu tun – bis an die Schmerzgrenze.


«Bänziger, Sie sind ein Typ»

Zurück zu den Aufnahmeprüfungen: Während vieler Jahre habe ich die Aufnahmeprüfung für die FMS korrigiert. In der Regel waren 50–70 Aufsätze innerhalb von zwei Wochen zu bewältigen. Für die Wackel-Kandidatinnen und -Kandidaten fanden in der Folge mündliche Aufnahmeprüfung statt. Mir an der Seite stand Heinz Bürgler, ein Sekundarlehrer aus Wettingen. Bei ihm hatte ich seinerzeit mein erstes Praktikum in der Höheren Pädagogischen Lehranstalt gemacht. Unvergessen ist mir, wie er in der Schlussbesprechung die Bemerkung fallen liess: «Bänziger, Sie sind ein Typ.» Ja, er war, wie ich, old school. Er glaubte, dass die Persönlichkeitsentwicklung Vorrang vor dem fachlichen Wissen habe. Dieser Ansicht bin ich noch heute.

Wir benötigen starke Lehrerinnen und Lehrer an unserer Schule. Kurt Wiedemeier und Paul Zübli, die Urs Strässle nachfolgenden Rektoren, haben bei der Auswahl des Personals eine glückliche Hand gehabt. Die Schule ist immer so gut wie die Lehrpersonen, die sie einstellt. Es mag banal klingen, ist es aber nicht: Geleitete Schulen sind dann erfolgreiche Schulen, wenn ihnen der Spagat zwischen Freiheit und Führung gelingt. Es braucht beides, beides muss im Gleichgewicht stehen. Mit vier Schulleitungsmitgliedern eine rund 160-köpfige Schule zu führen, kann nur gelingen, wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit besteht.


Einsatz für die Bildung im Kanton Aargau

Während 14 Jahren habe ich als Erziehungsrat tätig sein dürfen. Es war mir eine Ehre, meinen Beitrag zum Bildungssystem Aargau leisten zu dürfen. Mein Verständnis für die Anliegen der Bildungsverwaltung ist mit den Jahren gestiegen. Allerdings auch die Einsicht, dass nicht alle Entwicklungen in eine gute Richtung führen. Nimmt man die innere Freiheit von uns Lehrpersonen als Massstab, ist nichts in den letzten 10 Jahren geschehen, was sich nicht verantworten liesse.

Mit dem Kanton Aargau habe ich oftmals gehadert. Zu oft habe ich mir Sonntagsreden anhören müssen, die mit der Unterrichtsrealität nicht das Geringste zu tun hatten. Insbesondere der Grosse Rat erwies sich als störrisches, beratungsresistentes Gremium. Standen Lohnforderungen zur Debatte, wurde regelmässig die Neidkeule ausgepackt. Das ist die eine Seite. Die andere: Immer habe ich als Lehrer anerkennen müssen, dass die infrastrukturelle Seite, die ebenso wichtig ist, keine Wünsche offenliess. Der Kanton hat in unsere Schule investiert und jene Mittel zur Verfügung gestellt, die für einen wirkungsvollen Unterricht vonnöten waren. Ich kann und will das explizit anerkennen.


Kantonsschule Wettingen als Gemeinschaft

Zum Schluss zum Biotop Kantonsschule Wettingen: Ich habe mich immer glücklich geschätzt, an diesem Ort unterrichten zu dürfen. Allein die Vorgeschichte ist faszinierend. Die Mönche wurden 1841 von einem Tag auf den anderen vertrieben. Angelpunkt war ihre Weigerung, einen Beitrag zur modernen Bildungsgesellschaft zu leisten. Einige Jahre später öffnete das Seminar Wettingen seine Pforten. Während mehr als 100 Jahren wurden die künftigen Lehrpersonen des Aargaus ausgebildet. 1976 wurde das Seminar zu einer Kantonsschule. Das Image der seminaristischen Bildungstradition blieb Wettingen noch lange haften. Heute ist es meines Erachtens nicht mehr präsent, ausser in einem wesentlichen Punkt: Unsere Bildungsinstitution hat etwas Familiäres bewahrt. Die Schülerinnen und Schüler sind Teil einer Gemeinschaft, die nicht nur als Anspruch, sondern auch in der Realität gewahrt und gelebt wird. Die Offenheit der Lehrerinnen und Lehrer für ein Engagement, das über rein professionelle Ansprüche hinausgeht, habe ich immer geschätzt. Vor allem aber eine Schülerschaft, die uns das Unterrichten leicht macht. Werde ich gefragt, wie ich in Bezug auf die Jugendlichen in die Zukunft blicke, habe ich darauf nur eine Antwort: «Wir haben als Gesellschaft nichts zu befürchten, unsere Jugendlichen werden ihren Weg gehen, wie wir ihn gegangen sind.» Mit Freude stelle ich fest, wie fokussiert sie ihr künftiges Leben anpeilen und wie kraftvoll und lebensfroh diese Jugendlichen sind, die wir während drei oder vier Jahren begleiten dürfen. Es war und ist ein Privileg, an der KSWE Lehrperson zu sein.

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