Fokus

Kurzgeschichte: Lisa

Text: Anna Noelia Köpfli, G2
Bild: Antonia Camponovo

Rastlos wie immer wirft er sich von der einen auf die andere Seite. Jeden Abend das Gleiche – er kann nicht schlafen. Abends entschied sich all die Energie, die ihm am Tag fehlte, plötzlich zurückzukommen. Vielleicht aber ist es gar nicht so. Vielleicht ist es vielmehr so, dass er tagsüber nichts mit seiner Energie anzufangen weiss, bis sie ihn abends wach hält und er realisiert, dass er heute eigentlich gar nichts getan hatte – wie immer.
Die einfachste Lösung wäre es wohl, ein Hobby zu finden oder einem Ziel hinterher zu rennen. Doch dafür braucht man Interessen und Träume. Natürlich wuchs er mit Sportvereinen auf, war sogar ziemlich okay im Fussball, doch so richtig Spass hatte es ihm nie gemacht. Die Mannschaftsessen liess er lieber aus und bevorzugte die Reservebank dem Feld. Wo andere ihre Talente und ihre Leidenschaft in Theater oder Musik fanden, fühlten sich solche Veranstaltungen für ihn immer leer und flüchtig an. Man sass hin, schaute zu und ging wieder. Nichts im Theater war echt und Musik war nur etwas Flüchtiges, das vorbeiging. Alles interessierte ihn etwa gleich wenig und so blieb er nie lange bei einer Beschäftigung. Er bewegte sich von Sportverein zu Theaterclub, von Orchester zu Debattierklub, aber nie hatte ihn etwas länger als ein paar Monate gehalten. So entschied er sich schlussendlich, es ganz sein zu lassen mit diesem sinnlosen Hobby-Kram. Wieso sollte er seine Energie dafür verschwenden?
Auch mit dem Festlegen von Zielen hatte er sich immer schwergetan. Astronaut wollte er schon auch einmal werden, so wie jeder Junge aus seiner Klasse, aber auch dieser Gedanke ging vorbei. Die Schule hatte er mit «befriedigend» abgeschlossen. Seine Leistungen waren weder gut noch schlecht, er war immer anwesend, im Unterricht jedoch nie aktiv. Mittags sah man ihn allein essen. Es war nicht so, dass er sich keine Freunde hätte suchen können, aber er wollte nicht. Die redeten eh alle nur über ihre Hobbys. Nach der Schule geisterte er von Job zu Job, nie blieb er lange, nie fiel er auf, nie störte ihn etwas.  
Er war ein Niemand. Keine engen Freunde, keine Familie in der Nähe, nicht einmal ein Arbeitsumfeld, in welchem man ihn kannte. Also lag er wach und dachte an all die Energie, die er hatte, und daran, dass es nichts gab, worin er sie investieren konnte.

Heute Abend jedoch war etwas anders. Es war sicher schon nach Mitternacht, als ihn ein lautes «DRIINNGG» in seinem Hin-und-Her-Gewälze unterbrach, und er aus seinen immer gleichen Gedanken gerissen wurde. «DRIINNGG». Niemand kannte die Nummer seines Haustelefons. Wer benutzt das heutzutage überhaupt noch? Er erst recht nicht, wem hätte er die Nummer auch geben sollen? Und dann war es auch noch so spät. Nein, er konnte sich das nur eingebil- «DRIINNGG».  
Begleitet vom leisen Klatschen seiner Fusssohlen und der unangenehmen Kälte, die ihn nach dem Verlassen seines warmen Bettes umgab, öffnete er die Türe zum Wohnzimmer. «DRIINNGG». Wer auch immer ihn anrief, die Person am anderen Ende der Leitung war hartnäckig. Sie gab nicht auf.
Seine Hände tasteten nach dem Hörer, er kniff seine Augen zu, die sich gegen das plötzliche Licht der kleinen Lampe wehrten – «DRIINNGG». Das kalte Plastik an seiner Wange liess ihn erschaudern. 
«Hallo?»
Wo seine Stimme harsch und uneben vor Müdigkeit klang, so antwortete ihm eine Stimme voller Musik und Energie. Sie erzählte ihm von ihrem tollen Abend und vergass dabei das Ende gewisser Wörter und Sätze. Vom Alkohol berauscht, klang es fast so, als ob sie singend von ihren traumhaften Abenteuern berichten würde. Sie nahm nicht mal wahr, dass Lisa kein Wort sagte, nein, sie war einfach nur glücklich ihre Freundin endlich erreicht zu haben. Und er? Er hörte ihr einfach nur zu. Wann hat er das zum letzten Mal getan, einfach nur zuhören? Ach, auch egal. Da konnte er sich später noch Gedanken darüber machen. Ihre Stimme hielt ihn in ihrem Bann. Diese Energie und Lebensfreude, von der sie sprach, schienen ihm fremd. Diese Fremdartigkeit war keinesfalls abstossend oder irritierend, vielmehr faszinierend und einnehmend. Lisas Freundin präsentierte das ihm Unbekannte in einer Selbstverständlichkeit, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre.
Selbstverständlich, ja … – für ein paar Minuten verstand er sie. Für eine kurze Zeit fühlte es sich an, als ob diese Gefühle auch die seinen wären. Ein Gefühl von Frieden kam über ihn. Eine Zugehörigkeit füllte ihn aus, als er dieser Stimme lauschte, fast wie bei einem Fussballspiel, wenn nach einem erfolgreichen Torschuss alle gemeinsam feierten, obwohl eigentlich nur ein nichtssagendes Stück Leder erfolgreich versenkt worden war. Es war wie während eines Theaterstücks, wenn man all die Emotionen der Darsteller selbst auch fühlt. Mit ihr trat er aus seinem Wohnzimmer raus und hinein in eine Welt voller Licht und Klang, und so tanzte er innerlich mit ihr in ihren vergangenen Abenteuern. Seine Fenster schienen zu leuchten, alles war voller singender Farben und sein Herz schlug im Takt mit dem tanzenden Bass. Ihr klares Lachen erfüllte seine Ohren. Ohne es zu fühlen, widerspiegelte sich die Freude in seinem eigenen Gesicht. Er war zu sehr damit beschäftig, dessen Schönheit zu bewundern.
«Lisa? War’m bis’ du denn so ruuuhig?»
Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Nur eine kurze, einfache Frage.
Das Theaterstück neigte sich dem Ende zu, der Vorhang schloss sich, man wachte auf und merkte, dass alles, was man fühlte, nicht die eigenen Emotionen waren.
Das Fussballspiel war aus, es war der Moment, als die Zahlen auf dem Bord erschienen, und einem auffiel, dass all die Freude über die «gemeinsamen» Erfolge nichts mehr bedeuteten. Dieses Gefühl zeigte sich in seinem Gesicht.
«Lisa?»  
Seine Stimme war zu leise, zu trocken von der Nacht, als er antwortete: «Sorry, falsche Nummer» und dann ohne ein weiteres Wort auflegte.
All die Lichter in seinem Wohnzimmer waren verschwunden, seine Fenster dunkel und ohne Seele. Sein Herz schlug viel zu schnell.
In dieser Nacht war er länger wach als sonst. Es fehlte das unerträgliche Wälzen im Bett, das ihm den Schlaf raubte. Seine immer gleichen Gedanken waren heute anders und als er so da lag, überlegte er sich, was es ihm wert sein könnte, seine Energie aufzubringen und sein eigenes «Theater» zu erleben, sein Fussballteam wieder zu motivieren und es nochmals zu probieren.

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