Fokus

Kurzgeschichte: Certh

Text: Jasper Hase, G2
Bild: Antonia Camponovo

«Runter!», schreit Mom. Das Geschoss knallt unmittelbar neben Fensoija in die Wand des Ganges. Ist eben doch praktisch, klein zu sein, denkt sie sich. Im nächsten Augenblick wird sie von den Beinen gerissen und knallt gegen die Wand. Schmerzen pulsieren durch ihren linken Arm und mit ihnen ihr Blut. Schweren Atems schleppt sie sich um eine Ecke, auf dem Boden hinterlässt sie eine lange dunkelblaue Spur. Von draussen hört sie Schreie. N’jocco und Edward stürzen durch die offene Schleuse des alten Frachters. Sie sehen schwer mitgenommen aus. N’joccos türkisblaue Haut leuchtet nicht so, wie sie es sonst tut. Sie ist zerkratzt und weist überall Schwellungen von den Wärtern auf, welche das Team bewachen und sich einen Spass daraus gemacht haben, den «wertlosen Skrou» zu beleidigen und zu verprügeln. Auch Fensoija hatte hart zu kämpfen. Da sie dem Volk der Rukkar angehört, musste sie in der Gefangenschaft ebenfalls viel über sich ergehen lassen, glücklicherweise jedoch nur verbaler Natur. Ein lautes «Argh!» reisst Fensoija aus ihren Gedanken. Ihre lilafarbenen Augen leuchten auf. Nosh poltert durch den alten, dreckigen Hangar. Auf seinem Weg reisst er einen der Wärter mit sich und klemmt ihn sich unter den Arm. Mit einem grässlichen Knacken, welches man auf hundert Lupische Yard hätte hören können, zermalmt Nosh seinen Brustkorb. Während er weiter rennt, wird er in den Rücken getroffen. Das Geschoss reisst sogar ihn, einen Berg von Mann, von den Beinen. Er rappelt sich auf und läuft weiter. Ein Arm des Wärters klebt noch immer unter seiner Achselhöhle. Stolpernd erreicht er den Frachtraum. Dicht hinter ihm schwingt sich Eros elegant über einen Stapel leerer Kanister. Er bewegt sich geschmeidig wie eine Katze. Jeder seiner Schritte ist perfekt abgemessen und jede noch so kleine Bewegung dient einem Zweck. In einer fliessenden Bewegung überwindet er eine Barrikade und landet neben Nosh. Das Letzte, was Fensoija von ihrem Team sehen sollte, sind Alyra und Jake. Hals über Kopf springen sie in das Schiff und bringen sich sofort neben ihr in Deckung. Alyra hat Jake über ihre metallene Schulter geworfen und beginnt sofort, seinen leblosen Körper wiederzubeleben – vergebens. Dann ist alles schwarz. Nur noch dumpf hört sie die Schreie ihrer Teamkollegen, hastiges Fussgetrappel, das zischende Schliessen der Tür und die startenden Triebwerke. Das Chaos wird nur durchbrochen durch die singende Stimme von Mom.

«Alyra, wie sieht’s mit deinem Scan aus? Schon ‘ne Medizinstation entdeckt?», fragt Mom, während sie Fensoija behutsam im Arm hält. «Lange wird sie’s nicht mehr machen und ohne vernünftige Hilfsmittel kann ich nicht viel tun.»

«Negativ. Mein Hauptprozessor ist überhitzt. Warte auf Reboot.»

«Wozu seid ihr nutzlosen Resbor-Droiden überhaupt zu gebrauchen? Ich brauch den Scan, jetzt!»

Alyra gibt ein mechanisches Knirschen von sich und antwortet nach einiger Berechnungszeit: «Negativ. Resbor sind keine Droiden. Ein Resbor ist ein Mensch, welcher seinen Körper mit Teilen eines Droiden erweitert hat. Wir Resbor sind…»

«Ich weiss, was ihr verdammten Resbor seid!», brüllt Mom. «Und jetzt hör auf zu labern und mach deinen verschissenen Job! Fensoija braucht Hilfe!»

Eros beendet die Auseinandersetzung mit knappen Worten. «Med.-Station, vorne links neben dem Cockpit. Mom, danke für deinen Einsatz. Ich denke, du solltest nun Fensoija versorgen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich einige Medkapseln gesehen. Du solltest Fensoija vorerst kühlen und in ein künstliches Koma versetzen.»

«Ich weiss, was ich zu tun habe. Oder wer von uns hier ist Truppenärztin?», erwidert Mom scharf.

Ohne sie weiter zu beachten, dreht sich Eros zu Alyra um, welche gerade ihren Finger in eine steckdosenartige Öffnung am Kontrollpult steckt: «Scan beginnt.»

Scanvorgang startet. Maschinentyp: N’S:23:Transp, Max. Velocity: Information entbehrlich, Gewicht: / , Nahrungsvorräte: / . Informationen entbehrlich, starte Zusammenfassung wichtiger Daten. Schilde: Negativ, Geschütze: Negativ, Hyperschubantrieb: Negativ, O2-Filter: ausgefallen, Sauerstoffvorrat: Knapp, Energieversorgung: …, Energieversorgung: …

«Energieversorgung: Negativ.»

«Festhalten!», brüllt Eros durch das Schiff. Die Lampen in den Gängen fangen an zu flackern, Kontrolltüren öffnen sich, Sicherheitstüren schliessen und es wird dunkel. Gerade noch rechtzeitig bekommt Eros eine Leitersprosse zu fassen und wird anschliessend krachend gegen die Wand des Ganges geschleudert, als das Schiff mit einem Ruck nach rechts gerissen wird.
Alyra steht noch immer unbewegt am Kontrollpult. «Triebwerkausfall rechts», bestätigt sie.

Das Schiff schleudert durch den leeren Raum wie eine kleine Nussschale, welche durch Stromschnellen schiesst. Mit einem weiteren Ruck fällt ebenfalls das linke Triebwerk aus. Das Schiff treibt hilflos im All. Ohne Energie, ohne Hoffnung.

Etwas später

Das gesamte Team trifft sich im Cockpit. Eros ergreift als Erster das Wort: «Alyra, bitte um Statusbericht.» Alyra dreht sich zum Kontrollpult und verkabelt sich erneut mithilfe ihres Fingers. Sie zögert kurz und antwortet anschliessend mit ihrer metallischen Stimme: «Statusbericht negativ. Das Schiff hat keine Energie mehr.» Edward schlägt mit der geballten Faust auf das Kontrollpult: «Verdammt! Was jetzt?» «Genau! Was jetzt?», brummt auch der grosse Nosh und rammt seinen Kopf gegen die metallene Wand.

Alle sind angespannt, man spürt es. Es ist eine Mischung aus dem Gefühl, wenn man vergisst, an der richtigen Station des Hyperrails auszusteigen, und wenn man nachts in einer der Gassen in Lupai einem ehemaligen und betrunkenen Mitglied des 310er Trupps begegnet, welches damals versuchte, die Schurken von N’Scheol zu vertreiben. Von den 10’000 Spezialeinheitsmitgliedern kamen bloss 310 zurück und diese, die zurückkamen, waren andere Menschen, als sie es bei ihrem Aufbruch gewesen waren. Nun sitzt die nächste Spezialeinheit auf N’Scheol fest, oder besser gesagt hinter einem der Monde von N’Scheol, in einem hilflos umhertreibenden, uralten Transporter, welcher keine Energie mehr hat.

Diese Gedanken sind so niederschmetternd und kommen Eros so schnell, dass sein Sentichip sie nicht wie seine anderen Gefühle unterdrücken kann. Er spürt, wie eine Welle von Angst und Kummer sich durch seinen gesamten Körper frisst und ihm für einen kurzen Augenblick die Lebensenergie raubt.

Ein ohrenbetäubender Schrei reisst Eros aus seinen Gedanken und der Sentichip übernimmt wieder die Kontrolle. Von jetzt auf gleich beginnt ein Kampf zwischen Angst und purer Rationalität. Der Schrei dauert noch immer an. Er zerfetzt die angespannte Luft, füllt jeden Winkel des Schiffes aus und ist so markerschütternd, dass allen ausser Nosh die Beine wegsacken. Langsam verlagert sich der Schrei in ein unkontrolliertes Gurgeln und verstummt anschliessend so abrupt, wie er aufgetaucht ist. Er hinterlässt ein klaffendes Loch, dessen einzige Konturen die nachvibrierenden Metallrohre und Platten an Wänden und Decken sind. Die Angst gewinnt.«Certh», zischt Eros.

«Wir müssen schnell handeln. N’jocco, Edward: Holt Jakes Körper, schnell.»

«Eros, was ist das?», fragt Mom. Eros spürt ihr Zittern, hört ihren flachen Atem und spürt ihre schweissigen Hände, welche seinen Arm umklammern. In ihren Augen sieht er nichts ausser Angst.

Mom, das ist ein Certh. Ein menschenfressendes Wesen, welches früher dafür gebraucht wurde, um Energie für die Schiffe zu erzeugen. Früher hat man Skrou, N’joccos Vorfahren, an sie verfüttert, damit das Schiff Energie hat. Eigentlich galten sie als ausgestorben, doch dieser lebt noch und er muss fressen! Woher ich das weiss? Erzählungen und Geschichten prägen mein gesamtes Leben und von diesem Wesen wurde mir schon viel erzählt. Jede Geschichte, die ich über die Certh hörte, endete mit: «Wenn ein Certh aus seinem Käfig entkommt, dann lauf!» … Das kann ich ihr nicht sagen…

«Ein Certh ist ein Wesen, welches Energie erzeugt. Hierfür benötigt ein Certh jedoch Nahrung.»

«Und du sagst, Jake ist nicht mehr als bloss Nahrung?», schreit Mom Eros ins Gesicht und löst sich von seinem Arm.

«Jake ist tot!» Eros und Mom stehen sich direkt gegenüber. Er spürt ihren Atem, welcher nun nicht mehr flach und schnell, sondern wild und schnaubend ist. «Jake war einer von uns. Er hat es verdient, ein richtiges Grab zu bekommen und ebenso schulden wir es seiner Familie!», spuckt Mom Eros entgegen.

«Jake hatte keine Familie! Keiner von uns hat Familie. Wir alle sind Ausgestossene, deshalb sind wir hier. Hätten wir eine Familie, wäre keiner von uns Mitglied dieser Spezialeinheit!», antwortet Eros.

«Du hast recht», meint Mom. «Wir haben keine Familie. Wir alle nicht! Alle, ausser dir. Der Sohn des Besner-Trupp-Kommandanten. Nur weil dein Vater der Kommandant der Leibgarde des Imperators ist, bist du hier. Und du bist unser Anführer!»

N’jocco und Edward kommen zurück. Zwischen ihren Schultern hängt Jakes lebloser Körper.

«Nein, bringt ihn zurück», sagt Mom und wirft den beiden einen eiskalten Blick zu. «Das können wir nicht …»

«Die Certh waren Wesen, die niemand je richtig verstanden hat», fällt Eros Mom ins Wort. «Mithilfe eines Energiefeldes konnte man sie gefangen halten, das ist ihr einziger Schwachpunkt. Es gibt Geschichten von einem ganzen imperialen Frachter, welcher verloren ging, weil ein einzelner Certh die gesamte Besatzung von 20’000 Personen verschlang! Von Tag zu Tag wurde die Besatzung kleiner. Verzweifelt versuchten sie, ein Notsignal zu senden und auf dem nächstgelegenen Planeten anzulegen. Wenn dieses Monster ausgebrochen ist und wir es nicht wieder in seinen Käfig locken können, dann hoffe ich, auf den 8. Planeten zu kommen und nicht in die Hölle geschickt zu werden. Wir müssen vorsichtig und schnell agieren.»

Mit einem knappen Handzeichen bedeutet er Alyra, welche den Schiffsplan abgespeichert hat, und Edward und N’jocco, welche noch immer Jake halten, ihm zu folgen. Mithilfe des Plans aus Alyras Datenspeicher gelangen sie über einen schnellen Weg ins Schiffsinnere. Sie steigen mehrere Treppen hinab, bis sie an eine geschlossene Sicherheitstür kommen. Still sitzen sie vor der Tür und lauschen. Nach kurzer Zeit beginnen sich Edwards Haare zu sträuben. «Es ist da drinnen», sagt er und schluckt trocken.

Behutsam und respektvoll legen sie Jake ab. Eros nimmt ein herumliegendes Rohr. Er stemmt es in den Spalt zwischen den beiden Türflügeln und lehnt sich mit aller Kraft dagegen. Die Tür bewegt sich keinen Zentimeter. Das erste Mal, seitdem Alyra dem Team beigetreten ist, sieht sie Eros aufgeschmissen. Es scheint fast, als würden sich Tränen wütend in seine Wangen brennen. Er beginnt sich mit Wucht gegen das Rohr zu werfen, versucht es mit gegentreten und stemmt seine Füsse gegen die Wände des Ganges, doch nichts hilft. Er sackt auf die Knie und lässt seine Hände vom Rohr gleiten. Alyra bewegt sich langsam auf ihn zu. Noch nie hat sie ihn so verzweifelt gesehen.

Behutsam legt Alyra ihre Hand auf seinen zu Boden gerichteten Kopf. «Wir finden einen Weg diese Tür zu öffnen, das verspreche ich dir. Lass es uns gemeinsam versuchen.» Eros atmet tief ein. Entschlossen richtet er sich auf, sein Gesicht wird steif, sein Blick starr. Mit beiden Händen umfasst er das Rohr, Alyra legt ihre Hände auf seine. Ihre Blicke kreuzen sich für einen Moment und Alyra glaubt, etwas Weiches in seinen Augen zu sehen, bevor sein Blick eiskalt wird. Er richtet seine Aufmerksamkeit nach vorne und beginnt, sich gegen das Rohr zu lehnen. Alyra steigt mit ein. Die Tür beginnt zu knirschen. Aus dem Inneren des Raumes erklingt ein angespanntes Gurgeln.

Langsam bewegt sich Mom auf das Zimmer zu. Wie auf jeder Medizinstation eines Schiffes sind auch hier die Türen so gebaut, dass sie bei einem Energieausfall offen bleiben. Die Verletzten sollten keinesfalls eingeschlossen werden. Obwohl es im ganzen Schiff stockdunkel ist und nur ihre kleine Lampe einen dünnen, flackernden Schein von sich gibt, hat sie das Gefühl, aus diesem Raum einen noch dunkleren Schatten fallen zu sehen. Als sie vor das Zimmer tritt, umhüllt er sie beinahe ganz. Ihre Beine werden schwer, als würde sie durch knietiefes Wasser waten. Zögernd bewegt sich Mom auf die geschlossene Kapsel zu. Es bricht ihr das Herz, Fensoija so zu sehen. «Wir werden uns wiedersehen, versprochen!»

Das Gurgeln hinter der knirschenden Tür wird zunehmend unheimlicher. Alyras Knie werden weich und auf ihren Händen bildet sich Schweiss. Plötzlich verstummt das Gurgeln. Eros und Alyra schauen sich zögernd an, dann wird die gesamte Tür nach innen gerissen. Tentakel schiessen aus dem Inneren hervor, nur knapp kann sich Alyra zur Seite werfen. Zwei der langen, klebrigen Tentakel umschliessen Jakes Körper. Ein leises Zischen liegt in der Luft. Als die schaudererregenden Gliedmassen Jakes tote Haut berühren, durchläuft sie ein seltsames Pulsieren. Langsam und mit einem grässlichen Schleifen, welches eine lange, feuchte Spur aus Blut und Hautfetzen am Boden hinterlässt, wird Jake in Richtung Tür gezogen. Vom Schock versteinert starrt Edward auf Jake. Niemand rührt sich, Stille. Jake verschwindet durch die dunkle Öffnung. Gespannt versucht Eros einen Blick auf den Certh zu erhaschen. Doch der Anblick seiner Gestalt bleibt ihm verwehrt und den Mut, den Raum zu betreten, hat er nicht. Langsam setzt sich die Gruppe in Bewegung, ihre Augen immer auf die unheilvolle Türöffnung am Ende des Ganges gerichtet. Leise schleichen sie durch diesen hinunter in Richtung der Treppe, welche sie scheinbar in die Unterwelt gebracht hat. An ihrem unteren Ende angekommen, drehen sie sich um und rennen hinauf, als plötzlich eines der Rohre an der Decke aufplatzt und einer der Tentakel hervorschiesst. Er erwischt N’joccos Unterarm und legt sich fest darum. N’jocco schreit krampfhaft auf und versucht seinen Arm zurückzuziehen, doch er kann sich nicht befreien. Eros eilt ihm zu Hilfe und versucht, den Tentakel von N’joccos Arm zu reissen, doch bei der ersten Berührung durchfährt ihn ein solcher Schmerz, dass er unwillkürlich zurückschreckt und stöhnend auf seine Hände blickt, auf welchen sich bereits Brandblasen bilden. Bevor Edward oder Alyra reagieren können, wird N’jocco zur Decke hochgezogen. Der Tentakel umklammert noch immer seinen Arm, als mit einem lauten und matschigen Knacken die Knochen und Sehnen in N’joccos Ellenbogen reissen und splittern. Sein Unterarm verschwindet durch die Öffnung im Rohr. Schreiend windet sich N’jocco am Boden. Einen Augenblick später zieht ihn Edward hoch und rennt, ihn stützend, die Treppe hinauf. Alyra und Eros folgen stumm vor Entsetzen.

Als die anderen ihre stolpernden Schritte auf dem Gang hören, springen sie auf.

«Mom! Schnell, wir brauchen einen Verband für N’joccos Arm», ruft Eros ihnen entgegen. Mom verlässt schnellen Schrittes mit N’jocco das Cockpit. Was fällt ihm ein, N’jocco vorzuschicken?! Einer tot, einer ohne Arm und Fensoija liegt im Koma. Grosse Klasse! «Ich hoffe, unser Plan ist aufgegangen. Wir sollten jeden Augenblick weiterfahren können», meint Eros. «Für den Fall, dass etwas nicht geklappt hat, schlage ich vor, es ein weiteres Mal zu versuchen. Diesmal würde ich Fensoija nehmen, sie hat die geringsten Überlebenschancen von uns.» Niemand antwortet, beschämtes Schweigen. Ich werte das als Zustimmung.

Keuchend kommt Mom mit N’jocco zurück ins Cockpit.

Sie wendet sich an Nosh und fragt: «Nosh, kannst du für N’jocco einen Stuhl holen? Er sollte sich hinsetzen.»

«’türlich, Nosh kann!», erwidert der Koloss und setzt sich schwerfällig in Bewegung.

«So, was hab ich verpasst? War ja sehr erfolgreich eure Lass-Jake-opfern-und-nen-Arm-verlieren-Mission», sagt Mom und deutet auf die dunklen Monitore des Kontrollpults.

«Der Certh ist aus seinem Käfig entkommen. Er hat gefressen und Energie erzeugt», erwidert Eros mit einem Blick auf seine verkrampften Hände. «Dummerweise befand er sich nicht in seiner Zelle und somit auch nicht in der Nähe der nötigen Apparatur, mit welcher wir den Certh ‹melken› könnten. Die Energie konnte nicht vom Schiff aufgenommen werden. Mittlerweile hat das Monster die Energie sicherlich selbst verwertet. Wir müssen noch eine weitere Person opfern.» Eros wirft Mom einen tiefen Blick zu. «Das kannst du nicht tun», entgegnet Mom entgeistert. «Zuerst tust du so, als wäre Jake ein Niemand gewesen, dann bringst du eines unserer Mitglieder schwer verletzt zurück und jetzt willst du jemanden, der sich nicht einmal selber verteidigen kann, opfern?!», schreit Mom ihm entgegen.

«Ich hatte nicht erwartet, dass ein durch Emotionen gesteuertes Lebewesen in der Lage ist, dies zu verstehen. Sie ist bloss eine Last für uns. Wenn wir sie opfern, hat es keinen Einfluss auf die Grösse unseres Teams. Wir haben keine Zeit, wir müssen jetzt handeln.»

«Nein!», schreit Mom. Ihre starke Haltung, welche sie Eros normalerweise entgegenstellt, zerbricht. Mit Tränen in den Augen fleht sie ihn an: «Eros, bitte tu das nicht. Wir finden einen anderen Weg. Wir könnten… wir könnten… alle einen Arm abschneiden. Fensoija ist nicht so gross, dass lohnt sich bei ihr ja nicht mal und ausserdem…. ausserdem ist sie… sie ist eine Freundin von uns. Du kannst sie nicht einfach so opfern!»

«Es ist die Lösung mit dem geringsten Verlust.»

«Du bist krank!», kreischt Mom. «Komplett krank! Du verstehst nichts! Du konntest es noch nie nachempfinden. Dein Vater hat, ohne nachzudenken, einen Scheiss-Sentichip in deinen Kopf gepflanzt, um alles zu unterdrücken. Du bist der, der nichts versteht! Nicht ich! Ich reiss ihn dir raus, dann siehst du, wie es sich anfühlt. Du bist eine bemitleidenswerte Züchtung. Du konntest noch nie lachen oder Liebe empfinden und wirst es auch nie können!», mit diesen Worten wischt sich Mom krampfhaft die Tränen aus dem Gesicht und starrt Eros ein letztes Mal an. Sie dreht sich um und verlässt das Cockpit. Sie ist ausser sich und doch gefasst. Strammen Schrittes folgt sie der Blutspur von N’joccos Arm. Als sie auf der Medizinstation ankommt, setzt sie sich neben Fensoija auf einen Stuhl. Die Scheibe, welche sie voneinander trennt, ist beschlagen. So dünn und zerbrechlich sie auch ist, es scheint, als lägen Welten zwischen ihnen. Mit Tränen in den Augen legt Mom eine Hand auf die Scheibe. Ihr Gesicht ist errötet. «Ich werde nicht zulassen, dass er dich an dieses Monster verfüttert.» Sie schliesst die Augen und legt ihren Kopf an die Scheibe. Zwischendurch flackert das Licht. Das Monster muss in seiner Zelle sein und noch etwas Restenergie in seinem hässlichen Körper haben. «Wir werden uns wiedersehen. Dann lass ich dich nicht mehr los, nie wieder. Ich werde auf dich warten und dich beschützen», wispert sie in die Dunkelheit. Eine Träne rollt über ihre Wange und tropft von ihrem Kinn auf den Stein, welchen sie um ihren Hals trägt. Er funkelt wie tausend Sterne. Lila, genau wie deine Augen. Doch Fensoijas Augen bleiben verschlossen. Mom umschliesst den Stein fest in ihren Händen. «Wir werden uns wiedersehen», flüstert sie ganz leise. Mit einem Ruck reisst sie sich die Kette vom Hals. Sie betrachtet sie ein letztes Mal und sieht Fensoijas wundervolle Augen vor sich. Dann öffnet sie die Kapsel einen kleinen Spalt breit. Fensoija zuckt kurz, als Mom ihr den Stein auf die Brust legt. Ein Funken Hoffnung steigt in ihr auf. Sie schliesst die Kapsel. Ihre Augen schweifen ein letztes Mal über Fensoijas Gesicht. Als sie bei der kleinen Narbe an ihrer linken Augenbraue ankommt, durchfährt sie ein leichtes Kribbeln. Die Narbe, welche von ihrem ersten Treffen stammt, erinnert sie daran, wie schnell aus «Feindin» «Freundin» werden kann.  «Wir werden uns wiedersehen», sagt Mom entschlossen. «Übrigens, nur weil du mich bei unserem ersten Treffen einmal gefragt hattest, mein richtiger Name ist Marha. Er ist auf die Rückseite des Steines eingraviert. Du wirst ihn schon finden», flüsterte Mom mit heiserer Stimme. Behutsam setzt sie ihre Lippen auf das eiskalte Glas, dann wendet sie sich ab. Das Bild von Fensoija noch immer vor Augen.

«Wir müssen etwas tun. Mein Radar hat soeben ein feindliches Flugobjekt erfasst», sagt Alyra, welche die ganze Zeit schweigend an der Frontscheibe gestanden ist. «Es befindet sich noch ein Stück hinter diesem Mond, doch in t -6 Minuten wird es in Sichtweite sein.»

«Okay, wir holen Fensoija, dann müssen wir den Certh in seine Zelle bringen und ihn füttern. Falls einer von uns bei dieser riskanten Aktion sein Leben verliert, möchte ich mich bei euch für unsere Zusammenarbeit bedanken. Vielen Dank für eure Kooperation.» Mit diesen Worten wendet sich Eros ab und beginnt sich auszurüsten. Die anderen tun es ihm gleich. In seinem Inneren ist er jedoch zerrissen. Er empfindet etwas Komisches. Ein Kribbeln in seinen Fingern und das Atmen fällt ihm schwer. Er blickt auf. Am anderen Ende des Cockpits kniet Alyra, auch sie packt ihre Sachen. Sein Blick bleibt einen Moment lang auf ihrem Rücken hängen. Die eine Hälfte ist mit einem Umhang bedeckt, welcher über ihre linke Schulter hängt. Am rechten, unteren Teil ihres Rückens erblickt er ein Gewirr aus Zahnrädern, kleinen Metallstäben und vielen Kabeln. «t -4 Minuten», erklingt ihre raue, mechanische Stimme. Er wendet sich wieder seinen Sachen zu und will gerade seinen Blaster einstecken, als ein weiterer grässlicher Schrei erklingt. Alle fahren zusammen. Der Schrei des Certh ist beim zweiten Mal sogar noch angsteinflössender. Doch diesmal stoppt er schneller und geht über in ein hässliches Gurgeln und Matschen. Dazu ein Knacken und Zischen und auf einmal setzt sich das gesamte Schiff in Bewegung. Eros atmet auf, das Kribbeln in seinen Händen verschwindet. Sie könnten es noch rechtzeitig schaffen, bevor sie entdeckt werden. Der Rest des Teams sitzt schweigend am Boden. Ihre leeren Blicke schweifen durch den Raum und füllen sich vereinzelt mit Tränen. Ein Stechen beendet Eros Erleichterung. Knapp über seinen Rippen fühlt er ein kurzes Stechen. «Mom», flüstert Edward. Nun versteht auch Eros, doch hat er keine Zeit, sich Gedanken über Mom zu machen. Er steht auf und stellt sich ans Kontrollpult. Er drückt die Steuerknüppel nach vorne, doch das Schiff bewegt sich nicht. Alyra verbindet sich wieder mit dem Kontrollpult. «Negativ, Triebwerk links ausgefallen, Reparatur nötig», sagt sie knapp. Das Team, welches kurz aufgestanden ist, setzt sich wieder, doch alle scheinen ruhig zu sein. «t -1 Minute.»

«Es war grossartig mit euch», ergreift N’jocco als Erster das Wort. «Ich hatte mir immer gewünscht, einen anderen Skrou kennenzulernen. Ich kannte keinen und dachte, er könnte mein Freund werden. Doch alles, was ich brauche, seid ihr. Ihr seid meine Familie und ich bin stolz und dankbar dafür, euch gekannt zu haben.» Schweigend nicken ihm alle zu. Edward legt ihm seine Hand auf die Schulter. Alle sitzen gemeinsam am Boden, alle ausser Eros. Er hat das Kontrollpult verlassen und geht auf den Werkzeugschrank zu. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hält er sich den Kopf, er schwankt und stolpert. Alyra eilt ihm zu Hilfe. «Ich hab dich», flüstert sie ihm sanft ins Ohr und legt seinen Arm um ihre Schulter. «Komm, wir setzen uns lieber. Was tut dir weh?», fragt sie ihn. «Ich muss zum Schrank. Brauch nur einen Schraubenzieher», presst Eros krampfhaft heraus. Alyra macht zwei schnelle Schritte und greift nach einem der Werkzeuge. Während sie ihm den Schraubenzieher gibt, versucht sie ihm zu erklären, dass das Schiff nicht zu retten ist: «Die Triebwerke sind ganz hinten und das andere Schiff hat uns mittlerweile sicherlich entdeckt.» Sie bewundert Eros Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, doch will sie die letzten Sekunden lieber mit ihm in ihren Armen verbringen. Die Mauer zwischen ihnen beginnt zu bröckeln. Eros nimmt den Schraubenzieher mit einem dankenden und etwas hinterlistigen Grinsen an. Er umklammert den Griff und ohne dass Alyra reagieren kann, rammt er ihn sich mit aller Kraft in die Seite seines Kopfes. Sein Gesicht verkrampft sich und Alyra schreit auf. Sie ergreift seine Hand und reisst den Schraubenzieher aus der blutenden Wunde. Langsam entspannt sich Eros verkrampftes Gesicht und ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Alyra hat sich neben ihn gesetzt und seinen Kopf auf ihren Schoss gelegt. Am Ende des Schraubenziehers steckt ein kleines, verbogenes Objekt. Eros richtet sich auf. Er sitzt neben Alyra, stramm und entschlossen. Über seine Wangen fliessen Tränen und er blickt ihr direkt in ihre Augen, dann schliesst er sie in seine Arme. Seine Stimme ist flüsternd und sanft und doch hört sie etwas Reue: «Ich habe versagt, diese Mission erfolgreich durchzuführen. Ich konnte dir gegenüber nicht auch noch versagen.» Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben durchströmt ihn ein wohliges Gefühl.

Mit einem Ruck wird das Schiff von einer feindlichen Rakete getroffen. Das alte Schiff geht sofort in Flammen auf und wird in tausend Einzelstücke zerrissen. Doch die Liebe in seinem Herzen kann ihm niemand mehr nehmen. Mit einem Lächeln auf den Lippen werden Alyra und Eros von den Flammen ergriffen.

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