Fokus

Kurzgeschichte: Die Erlösung

Text: Valerie Frangi, G2
Bild: Antonia Camponovo

Schleifend setzt sie einen Fuss nach dem anderen auf den kalten Asphalt. An den Enden ihrer pechschwarzen Haare zeichnet sich ein ausgewaschenes Pink ab. Die Erinnerung wegzuschneiden, kommt ihr nicht in den Sinn, zumindest redet sie sich das täglich ein. An ihrer linken Wange zeichnet sich seit dem Ereignis ihrer Prophezeiung eine Narbe ab, die funkelt wie ein Stern. Schlagartig verdunkelt sich plötzlich der Himmel über ihr. Düstere, aufgeladene Wolken vernebeln ihre Sicht und das Knistern, welches sie früher als Kind so gerne beim Fernsehen gehört hatte, entlädt sich mit einem gewaltigen Knall auf sie. Das Prickeln, anfangs kaum spürbar, breitet sich flink von ihrer Narbe zu ihren Armen und schliesslich auch in ihrem gesamten Körper aus, bis es sich als unaufhaltbares Zucken äussert. Ob sie Qualen erleidet oder einfach nur tanzt wie die Lichtstrahlen einer Discokugel, bleibt verborgen. Klar ist jedenfalls, dass sie es keine weiteren Sekunden aushalten kann. Hat sie ihre Aufgabe erfüllt? Geht ihr Leben endlich weiter? Nein, denn so unerwartet wie auch das gestrige Gewitter begann, stoppen die Zuckungen urplötzlich und scheinen nie da gewesen zu sein. Ein nichtiges Seufzen entweicht ihren schmalen Lippen und mit ihm auch die mittlerweile mager gewordenen Gewitterwolken. Einzig die glühende Narbe und die brennenden Blumen zu ihren Füssen lassen auf das Blitzspektakel rückschliessen. Diese Blitzspektakel verfolgen sie nun schon seit Jahren und aus dem anfänglichen Nervenkitzel wurde schleichend Trostlosigkeit. Nun ist da nur noch Leere. Achtlos und ohne einen Sinn wird sie durchs Leben katapultiert – Von einem Gewitter zum anderen. Auch wenn jeder eingeschlagene Blitz heftiger ist als der vorherige, ist die Prophezeiung nicht erfüllt.
Sie pflückt eine rote Blume, die durch den Blitzeinschlag Feuer gefangen hat und nun zärtlich ihre Hand verbrennt. Mit traurigen Augen betrachtet sie das vergängliche Leben der Blume und wünscht sich, dass auch ihre Zeit kommen möge. Ein lautes Donnern erzittert und eine prachtvolle Sternschnuppe durchzieht den Nachthimmel. Ein Funken Melancholie steigt in ihr auf.

Am Tag ihrer Prophezeiung besuchte sie eine Ausstellung zum Thema Universum, Sterne und Gewitter. Sie mochte die weiten Welten schon immer, doch hätte sie nie gedacht, dass sie ein Teil davon werden sollte. Denn als sie spätabends nach dem Museumsbesuch auf ihre erste Party ging, erweiterte sich ihr Horizont. Sie hörte das Rauschen der Elektrizität in ihren Ohren, bis in ihre Fussspitzen knisterten die Weiten der Milchstrasse. Der Himmel wölbte sich strahlend und voller Blitze über sie. Das ohrenbetäubende Donnern durchbrach die elektrisierende Stimmung, die in der Luft lag. Eine flüsternde Stimme versprach ihr die Erlösung: Ihr Wunsch, zu den Sternen zu gehen, werde sich erfüllen. Vor ihrer Nasenspitze schlug ein gewaltiger Blitz ein, welcher den Vertrag zwischen ihr und dem schicksalsträchtigen Wispern endgültig besiegelte. Mit einem Ruck wurde sie von den Beinen gerissen. Sternschnuppen durchzuckten den Himmel, rotblaues Leuchten und sirenenartige Gesänge setzten ein und sie spürte, wie die neu erlangte Energie ihre Adern ummantelte.

Als sie wieder aufwachte, befand sie sich im Spital. Wie sich herausstellte, war sie high auf LSD über eine Landstrasse gerannt und von einem Smart mitgeschleift worden. Auf das Arztpersonal wollte sie nicht hören, geschweige denn eine Therapeutin kontaktieren. Als sie mit ihrem besten Freund über die Prophezeiung sprach, stempelte auch er sie als psychisch Erkrankte ab. Wie sich herausstellte, musste sie das Versprechen der Prophezeiung wahren, denn sobald sie mit ihrem besten Freund darüber sprach, wurde sie zu Unscheinbarkeit verdonnert. Zuerst war es die Kleidung, die sich dem schwarzen Nachthimmel anpasste, danach waren es die Haare, welche ihre natürliche Farbe verloren. Auch die Blitzeinschläge erschienen anfänglich nur schwach, kaum merkbar. Doch je näher die Prophezeiung heranrückte, desto stärker wurden auch diese. Ihr normales Leben war zu einem Ende gekommen. Sie entschied sich dazu, fortan allein ihren Weg zu gehen.

Ein weiterer, noch lauterer Donnerschlag reisst sie aus ihren Erinnerungen. Sie erzittert und spürt, wie heisser Staub auf ihre Haut rieselt. Sie schaut gen Nachthimmel. Ihre Ohren sind betäubt. Jetzt oder nie.

Sie nimmt einen tiefen Atemzug und rennt auf die Strasse. Ein lautes Hupen spaltet die Nacht. Die Farbe ist aus ihren Augen verschwunden. Glühende Kometen erhellen den Himmel. Ihre Arme und Beine sind weit ausgestreckt. Ein Blitz aus Verzweiflung und Resignation, der seit Anbeginn ihrer Zeit für sie vorbestimmt war, zeichnet sich mehrere Meter über ihr ab. Rasend steuert er auf sie zu. Ihre Adern erfüllt von Energie, ihre Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend, ihr Gesicht ein Ebenbild von Hoffnung, flackert ihr vergangenes Leben noch einmal vor ihren Augen auf, deren Strahlkraft allmählich erlischt. Weit entfernt auf einem anderen Planeten erkennt sie mit letzter Kraft ein kleines Wesen in die Weiten des Universums schauen, euphorisiert von der Tatsache, dass es einen Beschützerstern geschenkt bekommen hat.

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