Fokus

«Wir sollten dankbar sein für Fehler»

Text: Raoul Abea
Bild: Martin Rizek

Was passiert, wenn Fehler nicht verheimlicht werden können? Wenn sie für jeden sicht- oder hörbar sind, sobald sie passieren? Das ist in den Fächern Sport und Musik der Fall. Die Sportlehrerin Andrea Baumeler und der Musiklehrer Stefan Müller geben dem Jahrbuchteam (Raoul Abea, Martin Rizek) Auskunft über Fehler, die Angst davor und deren Vorteile.

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Was war der letzte Fehler, den Sie gemacht haben?

Andrea Baumeler: Keine Ahnung!

Sind Sie fehlerfrei?

Andrea Baumeler: Das habe ich nicht gesagt. (schmunzelt)
Stefan Müller: Also Fehler möchte man ja nicht so gerne zugeben. Deswegen sagen wir vorerst mal gar nichts. Nächste Frage. (Lacht)

Was verstehen Sie unter einem Fehler?

Andrea Baumeler: Wenn ich zum Beispiel etwas vorzeigen soll im Unterricht und im dritten Takt die Choreografie vergesse. Das ist ein Fehler. Aber ohne sicherheitsrelevante Auswirkungen, also kein Problem.
Stefan Müller: Ein Fehler ist, wenn etwas nicht so rauskommt, wie man es gerne möchte.

Was ist ein typischer Fehler bei Ihnen?

Stefan Müller: Wenn ich als Tastenspieler in einem Konzert danebengreife.

Das passiert Ihnen aber nicht oft, oder?

Stefan Müller: Da muss ich ausholen. Im 19. Jahrhundert hatten Musiker ein anderes Verhältnis zu Fehlern. Alfred Cortot, einer der grössten Pianisten des 19. Jahrhunderts, ist ins Studio gegangen, hat ein Stück aufgenommen und wenn dabei bereits im ersten Akkord ein Fehler passierte, interessierte ihn das nicht. Es ging ihm um den Ausdruck. Aufnahmen belegen, dass Pianisten im 19. Jahrhundert wesentlich schludriger spielten als heute. Aber dafür inspirierter. Der heutige Perfektionismus hängt mit den modernen Aufnahme- und Produktionsmöglichkeiten zusammen. Fehler schneidet man heraus. Dadurch hat sich die Ästhetik gewandelt.

Was streben Sie also an?

Stefan Müller: Wie die anderen das fehlerfreie Spielen. Aber darunter leidet die Spontaneität. Deswegen sollte man statt Perfektion den Ausdruck in den Fokus stellen.

Was sind typische Fehler im Sportunterricht, Frau Baumeler?

Andrea Baumeler: Ein typischer Fehler meinerseits wäre, dass ich mir bei der Planung einer Lektion den Ablauf nicht gut genug überlegt habe und so Schüler*innen nicht durchwegs aktiviert bleiben. Das passiert, aber Übung macht die Meisterin. Es braucht Erfahrung, um solche Pannen antizipieren und verhindern zu können.

Und welche typischen Fehler passieren Schüler*innen im Sportunterricht?

Andrea Baumeler: Das ist im Sport speziell. In einem Schulzimmerfach fallen Fehler weniger auf. Viele Prozesse laufen gedanklich ab und man ist als Schüler*in weniger exponiert. Wenn ein*e Schüler*in etwas nicht versteht, kann sie oder er trotzdem eifrig nicken und hoffen, nicht drangenommen zu werden. Wenn ich hingegen im Sportunterricht eine Choreografie mit ihnen einstudiere, sehen es alle, wenn jemand den Ablauf nicht versteht. Fehler sind sofort sichtbar. Das hat auch Vorteile. Ich kann gleich korrigierend eingreifen, Tipps geben und ihnen klarmachen, dass gewisse Abläufe Zeit benötigen. Fehler gehören dazu.

Gibt es zwischen Unterrichtsalltag und der Vorbereitung auf öffentliche Auftritte Unterschiede im Umgang mit Fehlern?

Andrea Baumeler: Bei Auftritten, zum Beispiel bei «Let’s Move», unserer grossen Tanz- und Akrobatikshow, die alle drei Jahre stattfindet, wollen wir keine Perfektion. Klassen sollen mitmachen und sich getrauen aufzutreten. Die Klassensolidarität steht im Vordergrund. Etwas anderes sind Auftritte des Freifachs Vertikaltuch. Bei einer Show machen nur Schüler*innen mit, bei denen ich ein sehr sicheres Gefühl habe. Das entwickelt sich über die Jahre. Bei einer Show gibt es verschiedene Kategorien von Fehlern. Diejenigen, welche die Sicherheit der Schüler*innen gefährden, dürfen nicht passieren. Niemand darf sich verletzen oder herunterfallen. Andere Fehler, die keinen Einfluss auf die Sicherheit haben, passieren. Wir turnen zum Beispiel unsere Choreographien synchron auf Musikakzente. Das gelingt nicht immer. Solche Fehler zeigen, wie anspruchsvoll die Darbietung ist. Das ist gut! Wir sind keine Profis und Teil einer pädagogischen Einrichtung.

Wie gehen Sie mit Schüler*innenfehlern vor und während Auftritten um?

Stefan Müller: Bei der Vorbereitung auf ein Konzert ist es mein Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler nach ihrem Auftritt zufrieden mit sich selbst sind. Das heisst, dass die Stücke nur so schwer sein dürfen, dass sie diese auch bewältigen können. Da ist Planung wichtig. Es liegt in unserer Verantwortung, passgenaue Stücke und ausreichend Übungszeit einzuplanen, damit niemand nach einem Auftritt ein schlechtes Gefühl hat.

Ist das schon passiert? 

Stefan Müller: Ja, das kann passieren. Wenn man im Unterricht mal danebengreift, ist man zu zweit in einer unverkrampften Situation. Bei einem Auftritt steht man aber in der Öffentlichkeit. Die Fehlerakzeptanz ist eine andere. Dabei sind sich die Schülerinnen und Schüler sehr kritisch mit sich selbst. Dann geht es darum, die Fehler ohne Groll zu akzeptieren und sich fürs nächste Mal realistischere Ziele zu setzen.

Wie gehen Sie mit Angst vor Fehlern um?

Stefan Müller: Angst kann man nur durch regelmässiges Üben und möglichst viele Auftritte abbauen. Man gewöhnt sich an die Auftrittssituation und gewinnt mit jeder positiven Erfahrung an Selbstsicherheit. Zu diesem Zweck steuere ich vor Auftritten den Umgang mit Fehlern: Je näher dieser kommt, desto mehr senke ich den Druck. Ein Lehrer, der sich über seine Schülerinnen und Schüler profiliert und diese deshalb stets unter Druck setzt, schürt solche Ängste. Das hemmt.

Wie reduziert man den Druck?

Stefan Müller: Indem man nur das kritisiert, was man in der Zeit bis zum Auftritt noch umsetzen kann. Wenn in einer Woche das Konzert ist, ändere ich keine Fingersätze mehr und stelle auch nicht fundamentale Grundlagen in Frage. 

Wie ist das im Sport?

Andrea Baumeler: Auch ich setze auf ausgiebiges Üben. Und zwar nicht über ganze Lektionen hinweg, sondern immer in kleinen, regelmässigen Portionen. Bei einer Seilspringprüfung etwa achte ich zudem darauf, dass die Prüflinge nicht vor der ganzen Klasse auftreten müssen. So reduziere ich den Druck und damit auch die Angst. Ausserdem haben sie bei Vorführungen zwei Versuche. Der schlechtere zählt nicht. Das hat sich bis hin zu Abschlussprüfungen bewährt: Viel erwarten, viel üben, aber auch faire Chancen bieten, um das Potential abzurufen.

Was gibt es für Konsequenzen bei Fehlern im Schulkontext?

Andrea Baumeler: Bei Prüfungen wirkt sich das auf die Noten aus. Bei Spielen wie beim Volleyball ist die Konsequenz, dass das Spiel zum Erliegen kommt, wenn Schüler*innen etwa eine Manschette nicht ins Feld spielen. Das mag mühsam sein, ist aber nicht weiter schlimm. Bei Risikosportarten wie beim Klettern gibt es keine Fehlertoleranz. Wenn sie nicht richtig sichern, ist das gefährlich.

Wie gehen Sie im Musikunterricht mit Fehlern um, Herr Müller?

Stefan Müller: Na ja, Noten sind ein recht primitiver Motivator und gerade in der Kunst etwas Fragwürdiges. Man müsste sie ganz abschaffen. In der Hirnforschung weiss man schon lange, dass Leistung, die aufgrund externer Faktoren wie Noten erbracht wird, nicht zu einer kreativen Selbstverwirklichung führt.

Was hat das für Folgen für die Schule, wenn man diesen Gedanken weiterspinnt?

Stefan Müller: Wenn es den Schülerinnen und Schülern gelingt, sich selber mit der Musik auszudrücken, in welchem Stil auch immer, und sie sich wirklich reinknieen, arbeiten, fleissig sind und ein tolles Schlussresultat erlangen, dann erleben sie ein Gefühl von: «Super, ich habe es geschafft, ich habe etwas Tolles gemacht!» Dieses Erfolgserlebnis ist besser als jede Note.

Sollen Schüler*innen also nur noch diejenigen Fächer besuchen, für die sie intrinsisch motiviert sind?

Stefan Müller: Die beiden Hirnforscher Manfred Spitzer und Gerald Hüther etwa verweisen schon seit Jahrzehnten darauf, dass nur das, was ich mit Begeisterung und Leidenschaft tue, auch tatsächlich von Bestand ist. Wenn ich von mir aus etwas lernen will, ist das Hirn viel leistungsfähiger, als wenn ich etwas machen muss. Wir sollten unsere Schülerinnen und Schüler intrinsisch motivieren, zum Beispiel über für sie sinnvolle Erfolgserlebnisse, statt auf extrinsische Druckmittel wie Noten zu setzen. Lernen soll Spass machen und kein Zwang sein. Letzteres ist nicht nachhaltig.

Wie sähe in einem solchen Szenario der Umgang mit Fehlern aus?

Stefan Müller: In einem solchen Fall erübrigt sich diese Frage. Die Lehrperson wäre eine Art partnerschaftlicher Trainer und man versuchte, sich gemeinsam einem Ziel anzunähern. Wenn es gelingt, freuen sich beide. Wenn’s nicht gelingt, ist man vielleicht ein bisschen traurig, aber man wird wieder auf neue Ziele hinarbeiten, denn diese wollen ja beide Parteien erreichen.

Wäre ein solches Lernsetting auch im Sport sinnvoll?

Andrea Baumeler: Das erleben die Schüler*innen bereits in ihrer Freizeit in den vielen Sportvereinen, die manche besuchen. Das Maturitätsanerkennungsreglement fordert aber etwas anderes. Alle Schüler*innen sollen ihre motorischen Fähigkeiten weiterentwickeln, also nicht nur die, die sich für Sport begeistern. Ich finde es gut, dass sie das Fach nicht abwählen können und dadurch immer wieder ihre Komfortzone verlassen. Dass sie lernen, motorisch beziehungsweise physisch ihre Grenzen auszuweiten und sich durchzubeissen, wenn etwas anstrengend ist. Damit schulen sie ihre Frusttoleranz. Und das sind wichtige Fähigkeiten, die über das Fach hinausgehen.
Stefan Müller: Dem stimme ich zu. Musik ist auch eine tolle Gelegenheit, den digitalen Ablenkungen zu widerstehen, Konzentration einzuüben und auf ein Ziel hinzuarbeiten. Spassmachen heisst für mich nicht, dass man lethargisch das Leben an sich vorbeiziehen lässt und nur nach dem Lustprinzip agiert. Richtig Spass macht es einem dann, wenn man über sich selbst hinauswächst und ein Ziel erreicht.
Andrea Baumeler: Es gibt einen deutschen Pädagogen, Thomas Ziehe, der sich von der Vorstellung distanziert, dass Unterricht Spass machen müsse. Für ihn steht die Freude im Vordergrund. Zufriedenheit über den Erfolg lässt eine solche Freude entstehen. Das ist und fördert intrinsische Motivation, die wohl die meisten Lehrpersonen bei ihren Schüler*innen wecken und erhalten wollen. So gesehen sollten wir dankbar für Fehler sein. Sie bieten uns immer wieder die Möglichkeit, uns zu verbessern, über uns selbst hinauszuwachsen und Erfolge zu feiern, die mit jeder Anstrengung an Wert gewinnen.

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