Los ist eine berührende Virtual Reality Lesung, die auf einer wahren Begebenheit beruht. Im vergangenen Oktober ist Sandro Zollinger, der Regisseur dieses 360°-Films, mit 25 VR-Brillen an unsere Kantonsschule gereist. Zwei Klassen hatten die Gelegenheit einer unvergesslichen Lesereise beizuwohnen. Der Text entstammt der Feder des Aarauer Autors Klaus Merz.
«‹Mein Thaler hat sich verwandert.› An diesen Satz deiner Frau klammerten wir uns, zusammen mit deinen grossen, schweigsamen Kindern, und begannen nach allen gescheiterten Nachforschungen unseren Alltag ohne dein Dabeisein langsam wieder in seine gewohnten Bahnen zurückzulenken.
Nur in den Träumen kehrtest du zu uns zurück. Als ob nichts gewesen wäre, tratest du in unsere Stuben und Zimmer, setztest du dich an unsere Tische, legtest du dich in dein Bett. Bis wir dich insgeheim darum baten zu bleiben, wo du jetzt bist.»
Mit diesen Worten beginnt die Lesung, die aus der Retrospektive Peter Thalers Wanderung in die Schweizer Berge nacherzählt, von der er nicht zurückkommt. Im Gebirge lässt der Protagonist seine Vergangenheit Revue passieren, reist gedanklich noch einmal zurück in frühe Kindertage, bis ein Schneesturm sein Leben abrupt beendet. Seine Familie bleibt zurück. Thaler gilt als verschollen. «Im Kern geht es dabei um Vergänglichkeit, ums Abschiednehmen und darum, den Frieden zu finden», berichtet Sandro Zollinger im Januar 2020 in einem Interview mit Barbara Simpson.
Für das Filmprojekt liest Klaus Merz aus seiner Erzählung «Los», die 2005 im Haymon Verlag erschienen ist, zwölf ausgewählte und neu arrangierte Passagen. Zollinger verdichtet den vorgelesenen Text filmisch in virtuellen Räumen, begleitet von Klängen, Melodien und Geräuschen. So breitet sich beispielsweise eine teilweise noch von Schnee bedeckte Wiese voller blühender Krokusse vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer aus, ein sanfter Wind und das erste frühlingshafte Gezwitscher der Vögel sind zu hören, überlagert von der Erzählstimme des Autors. Der langsame Wechsel der Räume ist sanft, lässt den Zuschauenden Zeit, sich zu versenken, die Worte wirken zu lassen. Im Unterschied zum konventionellen filmischen Erzählen übernehmen die Anwesenden einen Teil der Regie selbst; sie können hinschauen, wo sie möchten, sie wählen ihren Bildausschnitt selbst. Die Virtual Reality ist laut Zollinger das Mittel, um Atmosphäre und Gefühle darzustellen, was eindrücklich gelingt.
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Lesen Sie hier von den Eindrücken einzelner Schülerinnen und Schüler der Klasse G2:
Lynn D.: «Normalerweise kann man sich beim Lesen mittels Fantasie selbst Bilder von Situationen und der Umgebung machen. Bei der VR-Lesung wird einem diese Freiheit teilweise weggenommen. Dass die Geschichte mit Bildern erzählt wird, verstärkt das Abschweifen aber nicht – im Gegenteil: Durch das Tragen der VR-Brille fühlte ich mich, als wäre ich alleine in der Geschichte. Es gibt keine schwatzenden Sitznachbaren, die einen stören könnten. Die Erfahrung konnte man später dann trotzdem teilen, aber die Versuchung, sich während der Lesung auszutauschen, war nicht da, so konnte man komplett in die Geschichte eintauchen.»
Aina C.: «Ich hatte bereits Erfahrung mit einer VR-Brille und konnte mir in etwa vorstellen, was mich erwarten würde. Und trotzdem war ich überrascht, was für eine besondere Atmosphäre durch diese 360°-Perspektive und den Sound geschaffen wurde. Mir hat insbesondere die Winterlandschaft und die Darstellung des abstürzenden Thalers gefallen. Ich denke jedoch, dass die Geschichte von Klaus Merz nicht ganz alle Generationen anspricht, da man ein gutes Sprachverständnis haben muss, um der Geschichte folgen zu können. Man merkt, dass der Regisseur sehr ambitioniert war, denn es ist schwierig, einen komplexen Text auf diese Weise zu verfilmen.»
Yanis G.: «Mir hat die Vorlesung neue Einblicke in die Welt der virtuellen Realität verschaffen. Die Virtual Reality, finde ich, hat viele positive Eigenschaften. Mit einem Film wie jenem von Sandro Zollinger wird das Filmeschauen auf ein neues Level gehoben. Ich konnte die Echtheit nachvollziehen und war mitten im Geschehen. Durch die geeignete Mischung aus Text und Bild kreiert der Film Spannung. Da der Film nicht mit Schauspielern und schnellgeschnittenen Handlungsabläufen arbeitet, konnte ich mich ganz auf den Text konzentrieren, welcher im Hintergrund erzählt wurde. Das virtuelle Projekt ist für mich rundum gelungen.»