Bildung

Carte Blanche

Text: Irène Wehaiba
Bild: Antonia Camponovo

Irène Wehaiba, Französisch- und Deutschlehrerin, erinnert sich so kurz vor ihrer Pensionierung noch einmal an ihre Zeit in Wettingen.

Eigentlich wollte ich gar nicht nach Wettingen. Eher zufällig fand ich mich dann dort im Lehrerseminar ein – fünfzehnjährig, im April 1974. Anstatt an die Kantonsschule Baden hatte es mich nach Wettingen verschlagen.
Vier Jahre später, im Frühling 1978, verliess ich die Schule mit einem Lehrpatent, das mir neue Möglichkeiten eröffnete.*

Ich blieb lange weg, habe nicht zurückgeschaut. Der Blick war immer nach vorne gerichtet, der Zukunft entgegen. Zuerst unterrichtete ich an der Sekundarschule, dann nahm ich mein Studium an den Universitäten Zürich und Genf auf. Zwischendurch absolvierte ich die Prüfung für das Sek-Lehrerpatent, später dann den Studienabschluss mit der Gewissheit, weiterhin unterrichten zu wollen.

Wieder durch Zufall – so schien es mir damals – kam ich erneut mit der Schule in Wettingen in Kontakt.

Ich hatte als Französischlehrerin Erfahrungen an diversen Mittelschulen im Kanton Zürich gesammelt und die Erkenntnis gewonnen, dass es sehr darauf ankam, wo man als Lehrerin arbeitete. Schulen hatten Schulkulturen. Diese waren geprägt durch Lehrpläne, Schulleitungen, Orte, Gebäudeanlagen. Diese äusseren Faktoren zogen die Menschen an. Die Lehrpersonen und – vor allem! – die Schülerinnen und Schüler. Ich hatte mir eine Liste von Faktoren für meinen Wunsch-Arbeitsort gemacht: Auf keinen Fall in einer Schule arbeiten, an der die Schüler strammstehen mussten, wenn die Lehrperson das Unterrichtszimmer betrat, auf keinen Fall an einem Ort sein, an dem man sowohl als Schülerin oder Schüler als auch als (junge, weibliche) Lehrperson die Macht der Hierarchien zu spüren bekam. Ich wollte keine Kolleginnen und Kollegen haben, die stolzer auf ihre akademischen als auf ihre pädagogischen Leistungen waren. An der Kanti Küsnacht hatte ich erfahren, wie dies möglich war. Der Ort war wunderschön, am Zürichsee gelegen. Ein altes Gebäude und viele Baracken drum herum. Die Schulleitung wohlwollend, unterstützend. Musik und Kunst überall. Die Schülerinnen und Schüler kamen sowohl aus der ländlichen Umgebung des Hinterlandes als auch von der Goldküste – eine wunderbare Mischung. Ja, das gefiel mir, in einer solchen Umgebung wollte ich sein, wollte ich unterrichten.

Und dann erzählten mir Freunde, im Aargau seien nach langer Zeit an mehreren Kantonsschulen wieder Hauptlehrerstellen ausgeschrieben worden. Willst Du Dich nicht melden? Nein, eigentlich wollte ich das nicht. Wirklich nicht? Es ist auch eine Stelle in Wettingen ausgeschrieben …

Wettingen! Ein wunderbares altes Gebäude, eine grosse Parkanlage (damals auch mit Baracken…) – und überall Musik und Kunst … Ich bewarb mich. Und bekam die Stelle.


Das ist nun schon dreissig Jahre her. In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert, vieles ist geblieben. Nun halte ich kurz inne und schaue zurück auf diesen Ort, der mich so viele Jahre begleitet hat.

Das Lehrerseminar Wettingen, das ich als Schülerin besuchte, war ein Internat, und zwar nur für angehende Lehrer, Frauen waren ursprünglich gar nicht zugelassen. Später wurden auch junge Frauen dort ausgebildet, aber nur als Externe. Einige unserer Mitschüler lebten also von Montag bis Samstag im Kloster. Auch Lehrer wohnten im Gebäude sowie der Internatsleiter, früher auch der Direktor. Es war eine Welt, die in sich geschlossen, sich uns Externen nur ab und zu offenbarte, zum Beispiel wenn eine Übung der schuleigenen Feuerwehr stattfand. Wir hatten nur einen kleinen Anteil am Internatsleben, so etwa bei den Mahlzeiten, die in einem Speisesaal eingenommen wurden. Heute ist dieser Raum (H010) ein sehr geräumiges, modernes Schulzimmer. Wir, die Externen, waren damals allerdings nur für das Mittagessen zugelassen. Alle hatten einen Stoffsack mit ihrem Namen darauf und darin eine Stoffserviette. Nun hat die Kanti Wettingen eine Mensa, die in mehreren Schichten die Mahlzeiten ausgeben muss. Doch das Prinzip des «Familientisches» wurde vom Internats-Speisesaal übernommen. Für Stoffservietten hat es heute aber leider keinen Platz mehr.

Eine Cafeteria gab es im Semi Wettingen nicht. Dafür den «Hohlen Magen», eine Art Kiosk im Zimmer H142, das später das Fachschaftszimmer der Romanisten wurde und jetzt als eine Art Rumpelkammer für technische Geräte gebraucht wird. Die grosse Pause war lange genug, so dass man sich dort mit etwas Kleinem, Süssem eindecken konnte, auch wenn man im Zollhaus oder in den Baracken Unterricht hatte. Im Palazzo hatten wir keinen Unterricht. Dort war die Übungsschule für die kleinen Primarschüler untergebracht. Wir Seminaristen und Seminaristinnen durften dem Unterricht zuschauen und unsere ersten Lehrversuche wagen.

Die Schule war übersichtlicher. Es gab das Hauptgebäude, den Langbau, das Zollhaus und die Baracken um den Palazzo herum, die mit den Jahren immer zahlreicher wurden und erst nach langer Zeit abgebaut wurden. Es gab die Sporthallen und ein Hallenbad. Und dann gab es die Kirche, den Kreuzgang. Man konnte einfach in der Kirche eine Pause machen, man wusste, wo der Orgelschlüssel hing, wenn man Lust verspürte auf die Empore zu gehen und den Raum mit Klängen zu füllen.

Wenn ich zurückschaue, sehe ich Änderungen: Es wurde renoviert und umgebaut, Fresken frei gelegt, Zwischenwände aufgestellt oder abgerissen, Schulräume dazu gemietet. Lehrpläne wurden ab und zu überdacht und neu verfasst. Viele Menschen kamen – und gingen.

Ich traure nicht um vergangene Zeiten: Wenn ich zurückschaue und alles genauer betrachte, stelle ich fest, dass die Änderungen, die im Moment so gross und wichtig schienen, sich mehr oder weniger an der Oberfläche bewegten. Das Wesentliche ist untergründig dasselbe geblieben: Seit Jahrhunderten treffen sich an diesem Ort Menschen, die eine Gemeinschaft bilden. Sie teilten und teilen ihr Wissen mit anderen, versuchen so, sich und andere weiterzubringen.

Wenn ich zurückschaue, sehe ich den schönen Ort, aber ich sehe vor allem Menschen, die mich gefördert, die mich herausgefordert haben. Und ich weiss, dass das Klosters Wettingen, das nun Schule und Museum und Erholungsraum und … ist, auch in Zukunft weiter Raum geben wird für Menschen, die sich und andere weiterbringen wollen.

* Das Lehrerseminar gibt es schon lange nicht mehr. Nach der Bezirksschule – für die meisten also im 10. Schuljahr – konnte man damals direkt die Ausbildung als Primarlehrerin oder Primarlehrer beginnen. Sie dauerte vier Jahre. Im Lehrplan waren die üblichen Fächer einer Maturitätsschule enthalten. Ergänzt wurden diese durch Unterrichtseinheiten, die im Zusammenhang mit der Berufsausbildung standen, wie etwa Psychologie. Man musste sicher ein Instrument beherrschen und wurde im Winter ins Skilager geschickt. Natürlich gehörte auch Unterrichtsdidaktik für alle drei Stufen der Volksschule dazu. Und es gab Übungslektionen und Praktiken. Es war ein sehr volles Programm, aber nach vier Jahren (also knapp 20-jährig) hatte man ein Lehrdiplom, das für alle drei Stufen der Aargauischen Volksschule gültig war UND eine kantonale Matur, die von einzelnen Universitäten für gewisse Fakultäten anerkannt wurde. Die letzten Primarlehrerinnen und -lehrer, die mit diesem System ausgebildet wurden, verliessen die Lehrerseminare in Aarau (heute Neue Kantonsschule Aarau) und Wettingen (heute Kantonsschule Wettingen) im Frühling 1979.

 

Zur Pensionierung von Irène Wehabiba

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