Fokus wir

Eine Klasse entsteht

Text: Caroline Dieth
Bilder: Caroline Dieth

Das Amt der Abteilungslehrperson

Der erste Schultag

August 2019. Die neuen Erstklässler*innen der Kantonsschule Wettingen versammeln sich am ersten Schultag im Abthof. Ich halte das grosse Schild mit der Aufschrift G1G in die Höhe und 24 Jugendliche begeben sich etwas zögerlich in meine Nähe. Ich gebe allen die Hand und schaue ein erstes Mal in die unsicheren, erwartungsvollen, bangen, offenen und verschlossenen, skeptischen und kecken Gesichter. Während einer musikalischen Darbietung verstummen die Gespräche und alle sind auf sich und ihre Gedanken in diesem wichtigen Moment zurückgeworfen. Bei mir ist es der Gedanke: Es ist meine Aufgabe, diese 24 Jugendlichen dabei zu unterstützen, eine Klasse zu werden. Mir ist bewusst, dass ein Weg mit vielen Unwägbarkeiten vor mir steht. Aus 24 Menschen eine Gemeinschaft entstehen zu lassen und zu dieser Gruppe und zu allen Einzelnen eine gute Beziehung aufzubauen, das lässt sich nicht einfach herstellen, dafür gibt es kein Rezept – und doch kann man sehr vieles falsch und sehr vieles richtig machen. Zu planen und zu reflektieren hilft dabei, aber es wird auch Momente geben, in denen ich auf meine Intuition werde vertrauen müssen. Für den heutigen ersten Schultag gilt: Zeige den Schüler*innen, dass sie willkommen sind und dass du dich für sie interessierst! Ich bin dankbar, dass mich dieses Interesse und das grundsätzliche Wohlwollen gegenüber den Schüler*innen in den 20 Jahren meiner Zeit an der Kanti Wettingen noch nie verlassen hat. Es geht also „nur“ darum, heute alle Kanäle zu öffnen und dies auch deutlich zu vermitteln. Blickkontakt aufnehmen, Freundlichkeit zeigen, Ruhe und Sicherheit ausstrahlen. Wir schaffen das! Ich helfe euch! Ihr könnt das!

 

Die ersten Wochen

Vier Jahre lang die Kantonsschule Wettingen zu besuchen und die Matura zu erreichen, ist nicht gerade ein Sonntagsspaziergang. Sich in seiner Klasse wohlzufühlen, hilft dabei, schwierige und anstrengende Zeiten zu überstehen und in unzähligen einzelnen Lektionen durchzuhalten – morgens in aller Frühe um 8.00 Uhr, abends nach einem vollen Tag in der letzten Lektion, vor dem Mittag mit knurrendem Bauch, nach dem Mittag während der Schläfrigkeit der Verdauungsphase, im November, wenn die letzten Ferien schon lange vorbei und die nächsten noch weit weg sind und es draussen dunkel und kalt ist. Das Gemeinschaftsgefühl hilft – aber der Fachunterricht hilft natürlich seinerseits auch, das Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Dies wird mir einmal mehr bewusst, als die G1G und ich zum ersten Mal bei unserer Lektüre gemeinsam schwierige und bedeutsame Gedanken denken und Erkenntnisse herausarbeiten. Ein Wir-Gefühl entsteht, nicht nur im, sondern auch durch den Fachunterricht.

Bereits nach drei Wochen beobachte ich, dass ich in meinen Gedanken nicht mehr wie am ersten Schultag von den 24 Jugendlichen spreche, sondern von „meiner G1G“ oder von Nina, Ennio, Tabea, Shkelqim, Hemnolina, Julia, Tobias … Bei jeder Klasse, die ich bisher als Klassenlehrerin betreut habe, habe ich bereits nach kurzer Zeit gespürt, dass nur diese und genau diese Klasse „meine“ Klasse sein kann. Ich bin mir bewusst, dass das lächerlich ist und einfach eine Projektion darstellt, aber diese Einsicht ändert interessanterweise nichts an diesem Gefühl, das ja sehr nützlich und sinnvoll ist und das ich gerne bewahre. 

Während ich die G1G ja nur vier Lektionen pro Woche erlebe, verbringt die Klasse die ganze Schulwoche zusammen. Mir ist klar, dass die Schülerinnen und Schüler das Entscheidende beim Aufbau eines Gemeinschaftsgefühls selber leisten. Meine Bemühungen leisten da allenfalls einen Beitrag. In den Deutschlektionen und Abteilungsstunden mit der G1G beobachte ich, dass sich der Prozess positiv entwickelt. Dem Abteilungslager blicke ich zuversichtlich entgegen. 

 

Das Klassenlager

Zum ersten Mal verbringe ich ein Klassenlager nicht in den Bergen. Ich bin mit meiner G1G auf dem Weg nach Luzern, wo wir in der Jugendherberge untergebracht sind. Viele Details sind vorbereitet: Alle sind im Besitz von Stadtplan, Programm, Informationsbroschüre, ÖV-Ticket. Ein Verhaltenskodex ist mit der Klasse erarbeitet und besprochen worden. Alle Programmpunkte sind organisiert: Foxtrail, Besuch bei Bruder Kletus im Kloster Wesemlin, Stadtführung ins mittelalterliche Luzern, Besichtigung der Papierfabrik Perlen, Besichtigung des Kunst- und Kongresszentrums, ein Spielabend, Ausstellungsbesuch im Kunsthaus Luzern, Minigolf und Wanderung über den Sonnenberg, Besichtigung mit Tablet-App im Bourbaki-Panorama. Der Bildungseifer der Klassenlehrerin ist dem Programm anzumerken! 

Das Hauptziel der Woche jedoch – das Zusammenwachsen zu einer Klasse, erste Momente der Vertrautheit, der Beginn von Freundschaften – erreichen wir eher nebenbei, auf dem Weg ins Kloster Wesemlin, beim gemeinsamen Rätseln über die Foxtrailunterlagen, beim Warten an der Bushaltestelle, beim Frühstück, beim Chillen an der Reuss, beim Plaudern vor dem Einschlafen… Ich versuche, all diesen Entwicklungen möglichst ungestört ihren Lauf zu lassen und doch präsent und verfügbar zu sein. Ich freue mich, wenn ich zwei Schüler*innen, die bisher noch wenig Kontakt zueinander hatten, in ein Gespräch vertieft sehe. Ich freue mich, wenn ich eine kleine Gruppe sehe, die mir entspannt schlendernd entgegenkommt. Ich freue mich, wenn es etwas zu lachen gibt.

Nach einem Minigolfturnier bittet mich die Klasse, auf die geplante kleine Wanderung zu verzichten und stattdessen noch im Vierwaldstättersee baden zu dürfen. Das Wetter ist traumhaft, die Temperaturen immer noch sommerlich. Nach einigem Abwägen stimme ich zu. Als ich später die Fotos dieser spontanen Unternehmung sehe, erkenne ich, dass mein Entscheid richtig war. Als am nächsten Morgen alle sehr aufgeräumt und pünktlich zum Abmarsch ins Bourbaki-Panorama bereitstehen, weiss ich, dass meine Autorität durch das Nachgeben keineswegs gelitten hat.  

Am Spielabend messen sich fünf Gruppen im Basteln eines Flugobjekts für ein Ei, das den Sturz aus dem dritten Stock auf den Vorplatz der Jugi unbeschadet überstehen soll. Alle haben die gleichen Materialien zur Verfügung. Es geht sehr laut zu und her. Die Stimmung ist ganz gross! Mit Enthusiasmus und Leidenschaft wird geschnitten und geklebt, werden Blätter gefaltet und Luftballons aufgeblasen. Meine Zwischenrufe verhallen ungehört. Es gelingt mir nicht, mit meiner Stimme zu den Schüler*innen durchzudringen. Kurz: Es läuft grossartig!

###IMG###

 

Weihnachtshöck

Kerzen, blinkende Lichterschlangen, Wienerli im Teig, Kuchen, Guezli, die letzten Wichtelgeschenke – alles ist da. Die Stimmung zunächst noch etwas verhalten. Beim Geschenkeauspacken gibt es glänzende Augen und Gelächter. Die Klasse ist aufgetaut. Es scheint, dass besinnliche Weihnachtsstimmung nicht ganz den aktuellen Bedürfnissen der Klasse entspricht. Die Lichterschlangen mutieren zur Discobeleuchtung, man einigt sich auf den Sound, es wird getanzt, zunächst noch etwas zurückhaltend, später ausgelassen. Einige singen lauthals mit. 

Worüber ich mich am meisten freue an diesem Abend: Das Spektrum an Tanzstilen ist riesig! Einige wirken sehr professionell und geübt. Dann gibt es auch völlig individuelle Bewegungsabläufe. Die Herren sind teilweise äusserst unkonventionell auf der Tanzfläche unterwegs. Alles scheint möglich, es wird viel gelacht, niemand wird belächelt!!!

Liebe G1G! Aus euch ist eine Hammerklasse geworden! Wie habt ihr das geschafft? Wie haben wir das geschafft? Es ist ein Gemeinschaftswerk!

Weitere Artikel

In welchen schulischen Kontexten erfahren Schüler*innen, Lehrer*innen und Angestellte der Kanti Wettingen Wohlbefinden und ein starkes…

zum Artikel

Holly Evans und Pirmin Suter, zwei neue Abteilungslehrpersonen im Gespräch

zum Artikel

Teamteaching im Akzentfach Geistes- und Sozialwissenschaften (AGSW)

zum Artikel

Die Abteilung G1D hat Impressionen aus ihrem Einführungslager im Video festgehalten.

zum Video

Eine Eltern-Veranstaltung zum Thema Volljährigkeit

Am 2. Mai 2019 lud die IGEL (Interessengemeinschaft Eltern und Lehrpersonen) ein zu…

zum Artikel