Fokus

Ovid rappt

Interview: Stefanie Nydegger
Bilder: KSWE

Ovid rappt – Übersetzen im Lateinunterricht

Sophie Caflisch unterrichtet Latein und Geschichte an der Kanti Wettingen. Wir unterhielten uns über die Bedeutung des Übersetzens im Lateinunterricht.

 Sophie, welchen Stellenwert hat das Übersetzen im Lateinunterricht?

Latein ist – soweit ich weiss – das einzige Schulfach, in dem Übersetzen noch zentraler Bestandteil des Unterrichts ist. Im Lateinunterricht besteht die Besonderheit darin, dass aus einem fremdsprachigen Originaltext ein vollständig neuer Text in der Muttersprache entsteht (vgl. Tafelbild). Diese Art der kreativen Transformation – das bewusste Umformen und Neu-Gestalten eines Textes – findet im modernen Fremdsprachen- oder gar im Muttersprachunterricht in dieser Tiefe, soviel ich weiss, eher selten statt.
 

Wo liegt dabei die besondere Herausforderung für die Lernenden?

Die Originaltexte stammen meist aus der Antike oder der Renaissance – also aus kulturell sehr entfernten Kontexten. Für die Schülerinnen und Schüler ist es deshalb oft gar nicht so einfach zu verstehen, was genau gemeint ist. Gemeinsam im Unterricht erschliessen wir dann die zentralen Konzepte (Decodierung) und überlegen, wie sich diese für heutige Leser und Leserinnen nachvollziehbar und anschaulich ausdrücken lassen. Dazu gehört auch die Frage nach dem Ton eines Textes: Sollte er zum Beispiel humorvoll sein? Wenn ja, wie schaffe ich es, dass auch heutige Leserinnen und Leser lachen können? Oder wie kann ich einen antiken Stil so nachahmen, dass die Wirkung erhalten bleibt? In solchen Momenten diskutieren wir auch kreative Formen – etwa, ob man rhetorische Mittel modern übersetzen oder sogar in Form eines Raps übertragen könnte. Diese kreative Auseinandersetzung ist ein ganz wesentlicher Teil des Lernprozesses.
 

Du hast erwähnt, dass Schülerinnen und Schüler zu Beginn fragen, ob sie in Prüfungen wörtlich übersetzen müssen. Was antwortest du darauf?

Nein, müssen sie nicht. Wichtig ist, dass sie den Text verständlich ins Deutsche übertragen. Eine wortwörtliche Übersetzung ergibt meist keinen Sinn. Die Schülerinnen und Schüler sollen in Prüfungen zeigen, dass sie den Inhalt verstanden haben und ihn in ihrer eigenen Sprache nachvollziehbar wiedergeben können.
 

Was bedeutet das konkret für die Übersetzungspraxis im Unterricht?

Die Übersetzung soll sich auf jeden Fall am System der deutschen Sprache orientieren, nicht an der lateinischen Struktur. Dann experimentieren wir mit verschiedenen Textsorten. Manchmal provoziere ich auch: Wenn ein Text sehr frech ist, experimentieren wir mit verschiedenen Tonlagen – von wörtlich-frech bis verharmlosend. So erkennen die Lernenden, wie Übersetzungen Bedeutungen verändern können.
 

Gibt es konkrete Beispiele, mit denen du diesen Effekt zeigst?

Ja, ich arbeite oft mit verschiedenen gedruckten Übersetzungen derselben Stelle – zum Beispiel aus Ovids Metamorphosen. Wir vergleichen Fassungen von 1870 bis 2003 und analysieren, was in welcher Zeit weggelassen oder umgedeutet wurde und weshalb. So wird sichtbar: Der Originaltext altert nie, die Übersetzungen hingegen schon. Eine Version von 1850 kann heute genauso unverständlich wirken wie das lateinische Original, während eine moderne Übersetzung aus dem 21. Jahrhundert deutlich zugänglicher ist.
 

Was braucht es, um eine gelungene Übersetzung zu erstellen?

Zunächst eine fundierte sprachliche Analyse: Grammatik, Wortbedeutung, Struktur. Dann aber auch ein Gespür für den kulturellen Kontext. Was meint ein Begriff wie «Tugend» bei Cicero? Wir müssen die historischen Konzepte verstehen, um sie richtig übertragen zu können. Das ist nicht nur sprachliche Arbeit, sondern auch kulturelle und philosophische.
 

Wie hilfreich ist dabei Künstliche Intelligenz?

KI kann grammatische Strukturen analysieren, also beispielsweise ein Partizip identifizieren, wörtliche Übersetzungsvorschläge liefern oder – ähnlich wie Google – nach bereits vorhandenen Übersetzungen suchen. Aber sie versteht keine kulturellen Nuancen. Sie kann die Übersetzung nicht kontextualisieren. Wir haben das im Unterricht getestet: Die KI-Übersetzung war kaum verständlich, der lateinische Originaltext hingegen schon, weil die Schülerinnen und Schüler den Kontext des Textes erarbeitet hatten. Das zeigt: Verstehen geht vor Übersetzen.
 

Hast du ein Beispiel für diese kulturelle Kontextualisierung?

Ein gutes Beispiel ist das Wort «Himmel» bei Ovid. Im Lateinischen unterscheidet er zwischen «aether» (Götter-Himmel), «aer» (Luft) und «caelum» (physischer Himmel). Im Deutschen gibt es nur den Begriff «Himmel». Um diese Bedeutungsvielfalt wiederzugeben, braucht es kreative Lösungen. Ähnlich bei «orbis», das je nach Kontext den Erdkreis oder das gesamte Universum meinen kann. Dabei stellen wir auch die Frage: Hatte Ovid überhaupt ein Konzept von «Universum» im modernen Sinn?
 

Inwiefern fördert das Übersetzen die Denkleistung?

Indem es die analytische und die kreative Ebene verbindet. Sprachliche Analysen schärfen das Denken – davon bin ich überzeugt. Denken und Sprache sind eng miteinander verbunden. Wenn wir dann noch kreativ interpretieren, also überlegen, wie wir Inhalte kulturell sinnvoll übertragen, entsteht ein besonders intensiver Denkprozess. Das ist nicht nur intellektuell fordernd, sondern oft auch sehr unterhaltsam.
 

Der Lateinunterricht sollte also erhalten bleiben.

Ja, auch wenn es dafür schon fast zu spät ist. Beruflich kann ich mich auch auf andere Standbeine verlassen, aber ich bin der Meinung, dass man ein wichtiges Werkzeug zur Schulung von Sprache, Denken und interkultureller Kompetenz vorschnell abgeschafft hat – ein Umstand, der zeigt, dass der Bildungswert des altsprachlichen Unterrichts unterschätzt wurde und seine Bedeutung für die interkulturelle Bildung von Heranwachsenden häufig nicht erkannt wird.

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