Rhythm is it!
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Liebe Gute Geister
Liebe Schulleitung
Wenn ihr diesen Brief lest, dann vergnüge ich mich vielleicht mit meinem Enkel Carlo, halte mich fit mit einem Marsch aufs Burghorn oder büffle mongolische Ausdrücke, um nicht ganz unvorbereitet in mein Abenteuer als Englischlehrerin in Dalandsadgad, Mongolei, einzutauchen. Aber: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt, wie Willhelm Busch zu sagen pflegte…
Sicher werde ich euch alle vermissen, das Anstossen am Begrüssungsapéro, das Kribbeln, wenn es nach der Sommerpause heisst, wieder vor die Abteilungen zu stehen, die «Kleinen» zu begrüssen, mit den «Grossen» das Finale anzupeilen. Den Auftakt des Schuljahres mit dem leicht mulmigen Gefühl liebte ich. Er war über all die Jahre – waren’s wirklich 32 Jahre? – der erste grosse Moment nach den Ferien, immer wieder ein Neuanfang. Die Spannung unter den Schülerinnen und Schülern übertrug sich jeweils auf mich. Ich genoss es, ihnen mein Programm vorzustellen, mit ihnen zu feilschen, wo sie mitreden durften und was sein musste. Die knisternde Hektik und Nervosität der ersten Tage entwickelten einen inspirierenden Sog, dem ich mich mit Wonne hingab.
Und am Mittwoch dann – über Mittag – meine Wellnessstunde, die Big Band-Probe! Seit ungefähr 26 Jahren waren diese Proben, zuerst mit Ota Kosek und seit 19 Jahren mit Rafael Baier, ein wichtiger Fixpunkt in der Woche. Dort hatte ich nie Zeit, an etwas anderes zu denken als an das, was gerade geübt wurde. Was gibt es Belebenderes, als in funkigen, jazzigen und anderen Tönen zu baden? Dabei Rhythmen zu folgen, die es in sich haben. Mit wechselnden Tonarten zu ringen, die dreimal in einem Stück ändern. Es war eine echte Herausforderung, aber nach der Probe fühlte ich mich erfrischt und erholt. Etwas schlecht zu können und üben zu müssen, um mitzukommen, hat mir gutgetan. Aber wie schwierig ist es doch, sich aufzuraffen, um zu üben! Das erwartete ich ja von den Schülerinnen und Schülern. Diese Anstrengung hat mich auf dem Boden der pädagogischen Realität gehalten.
Im Schulkontext bestimmten diese Proben meinen Rhythmus. Natürlich gaben der Stundenplan, der Unterricht, die Konferenzen und vieles mehr den Takt im Schulleben an. Aber der Rhythmus in der Big Band bestimmte meinen inneren Takt, der mir den Weg durch den Alltag vorgab. Ich staune immer noch, wie Rafael mit seinem Geschick die überbordende Energie in dieser Gruppe kanalisiert. Es gibt viel zu lernen in der Big Band! Ihr wisst ja alle, wo die Proben stattfinden…
Jetzt fällt mir ein, Unterrichtssequenzen vorzubereiten, das werde ich auch vermissen. Dieser kreative Prozess, sich den Entwicklungen zu stellen, seien sie politischer, pädagogischer oder digitaler Natur, sie mitzugestalten und umzusetzen. Ich habe mit drei verschiedenen Rektoren zusammengearbeitet: mit Urs Strässle, Kurt Wiedemeier und Paul Zübli. In jeder Epoche sind für den Unterricht entscheidende Veränderungen eingeführt worden: MAR, IB, Digitalisierung, um nur ein paar wenige zu nennen. Ich liebte Veränderungen, und Neues zu entwerfen und umzusetzen, inspirierte mich, um nicht zu lange im gleichen Rhythmus zu verweilen.
Manchmal wurde ich auch sehr unsanft aus meinem Takt geworfen. Das Einholen eines Feedbacks ist eine heikle Angelegenheit. Dass die Schüler und Schülerinnen – genau wie es wir Lehrpersonen in der Ausbildung lernen – darauf vorbereitet werden sollten und die Durchführung gut geplant sein will, leuchtet ein. Wie vielleicht einige unter euch wurde auch ich gelegentlich zum Blitzableiter der breit angelegten Feedbacks. Das war schmerzhaft. Es hat bisweilen Abteilungen in der anschliessenden Diskussion betroffen und beschämt zurückgelassen, denn nur einzelne Schülerinnen oder Schüler hatten unter die Gürtellinie gezielt. Mit Wellnessgutscheinen oder schicken Einkaufstaschen der coolen Marke verabschiedeten sich diese Abteilungen anschliessend von mir… Dieses Kapitel lege ich unter dem Titel «Schlechte Noten – schöne Geschenke» gedanklich ab.
Die Betreuung der Eltern als Abteilungslehrerin schätzte ich. Sie waren während der Schulzeit ihrer Kinder meine heimlichen Verbündeten – auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit. Ich, selber Mutter, weiss, dass alle Eltern ihre Kinder lieben, das Beste für sie wollen und gesetzlich die Endverantwortung für sie tragen. Eltern sind manchmal hilflos, genauso wie ich als Lehrerin es manchmal war. Stand ich mit Problemen an, erkundigte ich mich bei den Eltern nach einer «Gebrauchsanweisung» für den Sohn oder die Tochter, bevor ich meinen inneren Takt und die Geduld vollends verlor. Diese Frage wirkte entschärfend. Die Eltern offenbarten, dass sie von mir eine «Gebrauchsanweisung» erhofften, also machten wir uns gemeinsam auf den Weg. Elternarbeit ist Beziehungsarbeit. Ich als Mutter wollte in erster Linie von den Lehrpersonen ernst genommen werden. Um die Beziehung zu pflegen, reichten mir ein Elternabend und die Abschlussfeier nach der Schulzeit nicht aus. Deshalb verfasste ich auf Ende Schuljahr jeweils einen Elternbrief mit Abteilungsfoto und berichtete kurz, was uns während des Jahres beschäftigte. Vor allem dankte ich den Eltern für ihre Unterstützung aus dem Hintergrund.
Mein Schulalltag wurde jährlich vom Besuch der Praktikantinnen und Praktikanten der Universität Zürich ergänzt. Der Austausch mit angehenden Lehrkräften, die sich an meiner einstigen Alma Mater am Brunnen neuster pädagogischer Trends labten, war inspirierend, erhellend und ernüchternd (auch die Uni kocht nur mit Wasser). Junge Menschen in unseren Beruf einführen zu dürfen, ist aber ein Privileg. Wie schön ist es doch, etwas, das einem am Herzen liegt, weitergeben zu dürfen. Als Praktikumsbegleiterin traf ich an den entsprechenden Weiterbildungen Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen. Ich erfuhr von neuen Schulkulturen und mir wurde oft bewusst, wie Kantonsschulen als einsame Raumstationen im Universum des Bildungsangebots kreisen. Viele erfinden, pröbeln, führen ein auf kantonales und nationales Geheiss oder aus eigener Innovationslust. Das ist interessant und spannend. Schön ist, dass die Raumstationen sich gelegentlich zum Netzwerken aneinander andocken, um sich differenziert zu geplanten Projekten auszutauschen. So können Ressourcen genutzt und Energie gespart werden.
Ich danke euch allen für die inspirierenden und anderen Gespräche, die ich mit euch führen durfte. Ich danke auch allen, die mit mir Diskussionen der harscheren Art geführt haben. Ich liebe Widerstand, wenn er mich inspiriert. So hoffe ich, dass sich unsere Wege auch in Zukunft kreuzen werden, um dem Schulrhythmus zu lauschen. Er wird sich neu anfühlen, ihr alle werdet zu seiner Veränderung beitragen…
Mit herzlichem Gruss
Katharina (Merker, «die mit dem Theater», wie eine junge Kollegin mich einmal einordnete - auch ein Rhythmus…)